Michael Seeger Rezensionen Forum

cover

Annie Ernaux

Die Jahre

aus dem Französischen v. Sonja Finck

(Paris 2008) Suhrkamp (st 4968) Ffm 2019

ISBN: 978-3-518-4696-2

256 S. 12,00 EUR

gelesen 16./17. Januar 2023

ernaux_2020

Ein Leben - auch mein Leben!

 

Die Literaturnobelpreisträgerin Ernaux war in Deutschland eigentlich erst seit 2019 bekannt. Für mich brauchte es den Nobelpreis als Anstoß zur Lektüre. Es war, es ist ein Gewinn!

Autofiktion nennt man die von Ernaux präferierte Erzählweise. Zwar ist die Erzählerin unverwechhselbar die Autorin, doch gibt es anders als in der Autobiografie kein "Ich". Während der Lektüre grübelte ich darüber, wie ich diese Erzählweise beschreiben könnte, und siehe, Ernaux nimmt mir diesen Job ab. Die weibliche Erzählerin will "eine einzelne Existenz, die in der Bewegung einer ganzen Generation aufgeht" darstellen. "Für entscheidend hält sie die Frage, ob sie in der ersten oder in der dritten Person schreiben soll." (s. 188). Man hat das Konstrukt längst kapiert, so dass Ernaux's Erklärungen am Ende des Buches eigentlich überflüssig sind:

"... sie will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen." Alle Episoden der Erzählung nehmen ihren Ausgang von Fotos der Protagonistin/Autorin. "Die Frau, die auf den Fotos >immer eine andere< ist, spiegelt sich im >sie< der Erzählung.
In dem, was sie als unpersönliche Autobiografie begreift, gibt es kein >ich< , sondern nur ein >man< oder >wir< ". (S. 252f)

Die Übersetzerin Soja Finck leistet Großartiges, zum Beispiel indem sie für die zahlreichen Wortreflexionen, die Sprachspiele und Sprichwörter im Deutschen adäquate Lösungen findet. Da haben wir dann die "Bude" oder "locker sein". Man glaubt sich als Leser in einem deutschen Text, wenn da nicht das überbordende "man" wäre. Die Erählerin hat diesess unpersönliche Fürwört ja erläutert. Im Französischen ist das "on" aber breiter aufgestellt und schließt je nach Kontext ein "ich", ein "du", ein "wir" ein. top

Hat man das tausendfache "man" einmal akzeptiert, stört nichts mehr den Lesefluss. Im Gegenteil: Wir begeben uns mit der Figur auf eine 60-jährige Reise durch ein Leben und die französische Geschichte zwischen 1940 und 2008. Warum packt mich ein fremdes Leben? Es ist dieses "Tua res agitur!" Es ist auch teilweise mein Leben. Und da sehe ich zunächst große Gemeinamkeiten zwischen einer französischen und meiner zehn Jahre jüngeren deutschen Biografie:

Aber - und das erstaunt mich immer wieder - die so nahen gallischen Nachbarn ticken doch auch ganz anders als wir: Der Katholizsmus bedrückt als übermächtige Instanz. Tradition und Familie sind selbstverständlich. Überragend sind Film und Chancon als Orientierung. Die literarische Bildung im Zentralstaat kann daruf bauen, dass Generationen die gleichen Texte kennen. Ohne die Tour de France geht gar nichts. Die Dominanz des Fernsehens ist bestimmend. Wichtige Adolszenzerfahrungen machen junge Franzosen als Leiter in Jugendferienlagern. Sexualität ist absolut zentral, nicht so pornografisch wie bei Houellebecq, aber sinn- und zukunftsstiftend, auch obsessiv: Wie oft berichtet die Protagonistin von ihrem Masturbieren!? Vor der ersehnten Entjungferung hat sie Sperma im Mund und operiert mit Begriffen und Praktiken wie Fellatio, Cunnilungus, Analverkehr. Über allem die Angst vor einer Schwangerschaft, die Sehnsucht nach der Pille (S. 75) und "die Sehnsucht nach einem Mann" (S. 79). Die erfüllt sich im späteren Leben nach der Scheidung in einer Beziehung zu einem dreißig Jahre jüngeren Liebhaber. Im Sex mit ihm erlebt "man" so etwas wie ewige Jugend.
Politisch spielen für Linksintellektuelle die Präsidentschaftswahlen eine quasi existenzielle Rolle. Natürlich feiert man mit Mitterands Sieg den Fortschritt und das Leben.
Europa kommt - außer einem kurzen Blick auf die deutsche Einheit, die Kriege auf dem Balkan und einer Urlaubsreise nach Spanien - nicht vor. Man lebt, leidet, genießt und reflektiert national. top

Was habe ich über diese nationale französische Geschichte gelernt? Viele Städte in der Normandie und Bretagne (Le Havre!) waren durch den alliierten (!) Bombenhagel ähnlich zerstört wie deutsche Städte. Auch in Frankreich war die Nachkriegsnot groß, ablesbar an den Lebensmittelmarken. Der Algerienkomplex ähnelt dem deutschen Nazikomplex. Die heutige Reformunfähigkeit Frankreichs geht zurück auf "Errungenschaften" der Mitterand-Ära, welche die Erzählerin als Fortschritt feiert (Rente mit 60, 35-Stunden-Woche, Krankenversicherung).

Im Individuellen nimmt die Abtreibungspolitik und die persönlich vorgenommene Abtreibung einen wichtigen Platz ein. Blut, vor allem das Monatsblut, ist "ein ganz besonderer Saft" (Mephisto in FAUST), keineswegs eklig, sondern als existenzielle Materialisierung von Weiblichkeit wunderbar und uverzichtbar.

Wie ich arbeitet die Protagonistin als Literatur- und Sprachlehrerin am Gymnasium, ist aber unendlich mehr belesen als ich. Und so wird die Biografie immer mehr zur Bibliografie. Der Tod eines Autors, einer Autorin löst wahre Trauer aus. Ich bin beeindruckt, wie Bücher, Filme und Chancons einen Lebenentwurf nicht nur beeinflussen, sondern geradewegs gestalten können. Sympathisch wird die Erzähl-Figur nie, besticht aber mit ihrem lakonisch-unprätentiösem, fast schon chronikalischem Stil, der es ihr ermöglicht, durch rein sachlche Erzählung die Wertung dem Leser zu überlassen. Dabei gibt es dennoch keine zwei Meiungen:

"Die Bürgermeister erließen Verbote, man durfte sich in der Fußgängerzone nicht mehr auf den Boden legen, um das Funktionieren des Einzelhandels nicht zu beeinträchtigen. Jeden Winter erfroren mehrere Obdachlose, und im Sommer gab es Hitzetote." (S. 197)

Michael Seeger, 18. Januar 2023 top

© 2002-2023 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 18.01.2023