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Ingo Schulze:

Die rechtschaffenen Mörder

Roman

S. Fischer, Frankfurt 2020, 318 S. 21,00 €

ISBN 978-3-10-390001-9

gelesen Februar 2022

cover

Ich lese, also schreibt es.

Eine Hommage an die Welt der Bücher und die Menschen dieser Welt

Der Dresdner Antiquar Norbert Paulini lebt zunächst mit Vater und Großmutter, dann mit Ehefrau Viola als Mieter bei "Frau Kate". Eigentlich sind seine Mitmenschen nur Zuhör zu seinen Büchern, die er über alles liebt. Trotz mehrfachen Umzugs und Erweiterungen handelt es sich mehr um den Mikrokosmos einer Bibliothek als um eine Wohnung. Völlig unpolitisch berührt den Antiquar das "System DDR" so gut wie gar nicht. Erstaunlicherweise erhält er gemäß seinen Bestellungen auch jede Menge Buchmaterial beim staatlichen Buchgroßhandel. Erst später stellt sich heraus, dass Viola als IM der Stasi mit ihren Dossiers über den Ehemann und die Besucher die illustre Elfenbeinturm-Gesellschaft quasi geschützt hat. Die Wende trifft Paulini schwer. Man ahnt es schon: Bücher sind nicht mehr begehrt, die Besucher bleiben aus. Eine Welt bricht zusammen. Der Gipfel für Paulini ist dann ein Bücher-Müll-Gipfel:

"Wagenladung um Wagenladung musste hier abgekippt worden sein, Palette um Palette, anders ließ sich Entstehung und Gestalt des Buchgebirges nicht erklären." (S. 138)

Büchermüll

Ein "Interregnum" als Kassierer bei NETTO konnte nicht gut gehen. Ein erneuter Umzug steht an: weg von der Großstadt ins Kirnitzschtal. Teil I des Buches endet abrupt mit der Besuch zweier Kriminalkommissare und abrupt auch mitten im Satz:

">Herr Paulini, wir müssen Ihnen sagen, dass es mehrere übereinstimmende Aussagen gibt, die Sie" (S. 196)

Zwar fast 200 Seiten lang - aber eine Novelle! Eine wirklich "unerhörte Begebenheit"! Unerhört, dass die Bücher quasi zum Subjekt und die Menschen zur Staffage werden. Teil II ist die Geschichte des unglücklichen Schriftstellers Schultze (sic!), der mit Paulini und Lisa in einer "ménage à trois" (S. 233) lebt. Schultze taucht auch schon gelegentlich als Ich-Erzähler in Teil I auf. Die "Novelle" ist sein Text!. Teil III ist die Recherche von Schultzes Lektorin am "Tatort", um den Tod von Paulini und Lisa "aufzuklären". Sind die beiden in der Sächsischen Schweiz von einem Felsen gestürzt? War es gemeinsamer Suizid? Hat eine(r) den/die andere(n) mitgerissen? Für uns Leser bleibt es offen. Der rätselhafte Titel des Buches wird auch erst auf der letzten Seite angesteuert.

Die Kritik ist voll des Lobes für Ingo Schulzes Konstrukt der Multiperspektivität. Mir erhellt sie nichts. Teil II und III hätte ich nicht gebraucht. Dass, warum und inwiefern Paulini rechtsradikal - auf jeden Fall ausländerfeindlich - geworden ist, wird auch durch die beiden Nachklapps nicht beleuchtet.

Der Wert des Buches, eine Hommage auf die Bücher und die Leser, bleibt für mich die Novelle: die aus der Erinnerung wieder aufstehenden Titel einst gelesener Bücher, die Faszination der lterarischen Welt, die mehr ist, als der Laie zwischen Buchdeckeln vermutet.

Michael Seeger, 08.02.2022

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