Michael Seeger Rezensionen Forum

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Wolfgang Büscher

Berlin - Moskau

Eine Reise zu Fuß

(RORORO 23677), Reinbeck 2003

7. Aufl. 2008; 237 S. 9,99 EUR

gelesen Januar 2018

Büscher

Die Russen verstehen - mehr als ein Reisebericht

 

Am Rande meines Vortrags zur Deutschland-Umrundung per Rad wies mich ein Teilnehmer in Dresden auf den Autor Büscher hin. Da mir die Stolpersteine des Sächsischen bewusst waren, fragte ich: "Wie schreibt man den? Mit 'ch' oder mit 'sch'?" "Mit 'sch'. Büscher - wie die Mehrzahl von Buch!" Büscher also!

Es hat dann noch eine Zeit gedauert, bis ich das Buch verschlungen habe. Im Gegensatz zu meiner Grenz-ER-FAHRung geht es bei Büscher weniger um Strecke, Kilometer, exakte Angaben zu Unterkünften, kurz um eine 1:1-Abbildung des großen Marsches. Es ist ein reportagehaft aufgeladenes literarisches Produkt, bei dem der Marsch nicht das Zentrum, sondern eher das Mittel zum Zweck der Buchproduktion abgibt. Deswegen hätte ich mir natürlich auch eine detailliertere Karte gewünscht als die auf S. 8 abgebildete. Dem Autor ging es aber schließlich gar nicht um ein Rezept zum Nachwandern.

Wandern? Es sind eher Gewaltmärsche von 40 und mehr Kilometern pro Tag, von dessen existenziellen Strapazen der Leser nur gelegentlich erfährt. Es geht um die eher romanhafte - ja auch sprachmächtige - Erzählung dessen, was der mutige Abenteurer Büscher auf seinem Weg erlebt hat: Bestätigung des Vorrecherchierten und vor allem immer wieder Überraschungen.

Der Homo Viator geht, besser marschiert, auf der Trasse, auf welcher sich schon Napoleon und Hitlers Armee die Füße verbrannt bzw. erfroren haben. Insofern ist der Krieg allgegenwärtig: In Erzählungen der Menschen unterwegs von polnischen KZs, Massakern der Wehrmacht, Stalins Schlächterei in Katyn, Hinrichtungen durch Partisanen und angesichts von (Soldaten)friedhöfen, sowjetischen Siegesmonumenten, der zurückhaltenden Angst vor dem deutschen "Landstreicher" will der Krieg und die Kriegserinnerung nie enden.

Belarus - Weißrussland - ist in Büschers Erzählung das gruselige Unland, für das ich es schon immer gehalten habe: abweisend, stehen geblieben, dreckig. Der Autor bekommt schier "Mitleid mit dem Kommunismus". Die Passage zeigt die stark metaphorisierende Sprache Büschers.

"Er nahm menschliche Züge an. Alt war er. Er konnte nicht mehr. Ich ging durch sein gefallenes Reich, durch die Hallen wehte der Wind, Unkraut wuchs in seinen Sälen, ich traf ihn in seinem letzten Stadium an und betrachtete ihn mit der etwas angeekelten Neugier, mit der man einen alten Wüstling und Familientyrannen ungeniert anschaut, jetzt, wo er nur noch die Ruine seiner lebenslangen Raserei ist, einer Empörung gegen Gott und die Welt, wie sie war, wie sie ist, wie sie sein wird. Ein von Vergeblichkeit zitternder kleiner Mann, der wütend versucht, eine gewaltige Frau zu besteigen und ihr unentwegt zuflüstert, aber ich liebe dich doch, ich liebe dich doch, folge mir, ich erlöse dich von deinen falschen Träumen, und der, während er auf ihr predigt und predigt, alles zerstört, was er berührt und am Ende sich selbst. Diese Riesin leidet schrecklich unter ihm, er misshandelt sie, wo er kann, und bringt sie fast um, aber eines Tages ist er alt und schwach, und sie spürt es und wirft ihn einfach ab und zertritt ihn mit ihren großen Füßen." (S. 83f)

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Von der Matephorik zur Lyrik ist es nicht weit:

"Irgendwann war ein Zittern durch Karelitschi gegangen, ein Beben. Und die Erinnerung, dass es noch etwas anderes gab, als sich der immergleichen Glut der Sommer zu ergeben und dem eisglasierten Schnee der Winter, und das Dorf an der Straße hatte sich den Staub aus den Augen gerieben und den Wodkaschleim durch eine Zahlücke ausgespuckt, und die lastende brütende belorussische Weite hatte den Koloss aus sich herausgetrieben. ..." (S. 99)

Was ich gut nachvollziehen kann, ist dieses "Immer weiter":

"Ich hatte nie kehrtgemacht, ich hatte einen tiefen Widerwillen dagegen, und die Sonne schien und der Tag war gut. Heiß, aber nicht so heiß, dass es eine Schinderei gewesen wäre, zehn Stunden unter der Sonne zu gehen." (S. 186)

Glaubt der Wanderer mit der belorussich-russischen Grenze das Schlimmste hinter sich zu haben, holt ihn doch bald die öde Trostlosikeit der russischen Weite und der sie bevölkernden Menschen wieder ein. Noch nirgends auf der Welt habe ich Menschen getroffen, welche die Russen sympathisch finden. Immer wieder habe ich mich gefragt, woran das liegen könnte. Vielleicht trifft es Büscher mit seiner essayhaften Passage:

"Gut, das Hotel hatte wieder keine Dusche, aber das war es nicht. Eher schon das lang gezogene Schlürfen, mit dem die Frau an der Rezeption ruhig ihren Milchkaffee getrunken hatte, ohne sich davon irre machen zu lassen, dass ein Mann vor ihr stand, der die offenkundige Absicht hatte, sie zu bitten, ihm ein Zimmer zu überlassen gegen gutes Geld. (...) Der Kireig der verdammt Krieg. Er war in Wjasma gewesen, er war noch da, und es war nicht der Krieg der Deutschen, der war lange her, mein Großvater war lange tot, es war der Krieg der Russen gegen sich selbst, und die Wut war eine tiefe, protestantische Wut, und ein gutes, starkes Wort tauchte auf: Schrott.

Ungeheure Mengen Schrott hatte das Kriegsregime hinterlassen. Atomschrott. Stadtlandflusschrott. Benimmschrott. Kirchenschrott. Seelenschrott. (...) Dieses Klamme, Stickige war wieder da, das Rohe und das Gepresste in der Stimme und in den Gesten des Kellners, aber das Restaurant war kein Luftschutzkeller. es war die düstere Parterrewohnung eines langsam vertierenden alten Mannes, der niemals die Gardinen aufzieht und lange schon nichts und niemanden mehr hereinlässt, alles war so trostlos, so unendlich trostlos, auf dem Grunde der Wut war eine große Trauer. Was habt ihr aus eurem Land gemacht. Aus euren Städten. Aus euch, die ihr im Dunkeln lebt." (S. 203)

Michael Seeger, 16. Januar 2018

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