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Christoph Hein: 

Das Narrenschiff

suhrkamp, Berlin 2025, 751 S., 28,00 EUR

ISBN 978-3-518-43226-6

gelesen November 2025

 

Autor mit 80

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"Man darf nie gegen die Partei recht haben,
denn sie allein hat immer recht."

Karsten Emser, ZK-Mitglied, S. 241

 

Das Schiff voller Narren fährt sehendes Auges in den Untergang

Der fleißige Chronist Hein erzählt erneut die Geschichte eines Landes,
das es nicht mehr gibt.

Wie in seinen bisherigen Romanen erzählt uns Hein mehr als Historiker denn als Romancier die Geschichte der DDR. Waren es bislang eher historische Episoden, so lesen wir nun "das Ganze" - von der Rückkehr der Gruppe Ulbricht aus dem Moskauer Exil bis zum Mauersturz und dem Arbeitslosen- und Konkurselend direkt danach.

Das Suhrkamp-Lesezeichen des opulenten Werks gibt uns dankenswerter Weise einen Überblick über die acht Figuren des Romans. Diesmal sind sie ganz oben im System angesiedelt, hohe Funktionäre der SED, Karsten Emser gar ist ZK-Mitglied. Alle sind sie klüger als die immer rechthabende Partei, alle sind sie guten Glaubens ehrlich engagiert im Bestreben, ein besseres Deutschland aufzubauen, alle sind sie gleichwohl Opfer des Systems. Der eine - Dr. Johannes Goretzka, ein Ex-Nazi, Kriegskrüppel und danach fanatischer Parteikommunist - wird, weil er gegen die Partei recht hatte, degradiert und als Strafe in die Partei-Basisschule geschickt; der andere, Prof. Karsten Emser, behält aus den Erfahrungen der stalinistischen Säuberungnen 1937, welche er erlebt und überlebt hat, seine Klugheit weitgehend für sich und schweigt lieber, anstatt zu forsch oder zu spät den jeweils neuen Kurs mitzumachen. Sein Rat:

"Stell dich nie gegen die Partei. Wenn die Partei Fehler macht, folge ihr, mach ihn mit." (S. 242)

Prof. Kuckuck (eine Hommage an Thomas Manns Krull?), ein international angesehener Anglist und Shakespeare-Kenner wird auf einen Posten zur Überwachung des Kinder- und Jugendfilms abgeschoben, eine Professur erhält er nicht, vielleicht auch, weil er schwul ist.

Zusammen mit den angepassten und (konsum)geilen Ehefrauen Rita und Yvonne treffen sie sich zu Fünft regelmäßig zum Essen und privaten Austausch über die Volten des Systems.

Hein will ja stets dem sauber recherchierten "Gerippe Geschichte" lebendiges Fleisch hinzufügen - das sind seine Figuren. Die Personenzeichnung bleibt aber hölzern. Ist das stilistisches Unvermögen oder waren die menschlichen Beziehungen und Dialoge in der DDR tatsächlich so steif?

Sex - z.B. der außereheliche von Yvonne mit dem Romanistik-Professor Charpentier - geht bei Hein nie ohne Wodka, Wein, Cognac und hier nicht ohne endlose ideologische Debatten post actum über Staat, Partei und Gegnerschaft ("Klassenfeind"). Das Kapitel heißt "Libido eingemauert" (S.409ff). Der Lebemann Charpentier, der die Funktionäre verachtet, beendet schließlich das Verhältnis. Die immer noch libidinöse - inzwischen 27 kg schwerere - Yvonne muss schließlich ihr Gelüst mit einem schmierigen Kellner in der Wohnung ihres Sohnes Heinrich stillen, der dabei "ein sehr ungutes Gefühl" hat (S. 551).

Die menschlichen Begegnungen wirken auch deshalb so hölzern und steif, weil Hein versucht, in den Dialogen die Ereignisse um Entstalinisierung, Prager Frühling, Breschnews neue Härte, die Entmachtung Ulbrichts durch Honecker einzukleiden. Das alles erinnert mich an Walter Tell, wenn er seinen Vater Wilhelm so naiv fragt, ob es auch Länder gebe, wo keine Berge sind.

"Heißt das, du bist gegen die Oder-Neiße Grenze, Papa?"

"Ja, mein Mädel, ich bin dagegen. Ich bin dagegen dass man Richard und Marie vom Hof jagt, ihnen das Ackerland nimmt ..."

"Aber deswegen haben wir doch die Bodenreform gemacht. .... Mehr als einer halben Million Neubauern haben wir mit dieser Reform Land gegeben." (S. 86)

Ja, ich kenne die Geschichte der DDR und ärgere mich lesend über solche Belehrungen - aber nur kurz .... und lese dann gerne weiter. Woran lieg das? Sicherlich daran, dass es Hein versteht, in einem lakonisch unprätentiösem Stil die reinen Fakten zu erzählen, wobei sich die moralische Wertung von alleine einstellt. Kompositorisch erinnert das Buch stark an das andere starke Hein-Buch: Trutz.

Und: Ich habe tatsächlich einige historische Facetten gelernt:

  • Ulbricht war ein durch und durch deutscher Kommunist, der auf den Moskauer Weg erst gezwungen werden musste. Die Anerkennung der Oder-Neiße-grenze lehnte er zunächst ab ud bestand auf Wiedergewinnung der Ostgebiete.
  • Honecker hat mit der bewaffneten Gewalt seiner Personenschützer und Rückendeckung aus Moskau den "Alten", Ulbricht, zum Rücktritt gezwungen.

"Man hat uns die Welt gestohlen" (492), sagt Fred, der sich das als Klassenprimus wohl leisten kann. Man könnte darob wohl resignieren. Nicht aber so Heins Figuren, welche sich entweder mit Schweigen an Leben und Position halten oder in der Protestbewegung ab Mitte der 80er Jahre ihre Bestimmung finden.
Hein selbst lässt sich gar nichts stehlen, sondern arbeitet unermüdlich dank seiner starken Erinnerung am Nichtvergessen des Unrechtsstaates.

Wir wünschen ihm den Fortbestand seiner Schaffenskraft und hoffen auf einen neuen Wurf des inzwischen 81jährigen Autors.

Michael Seeger, 26. November 2025 top

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