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Fjodor M. Dostojewskij

Schuld und Sühne

übertragen von Benita Girgensohn

(1866) C. Bertelsmann Verlag o.J. 584 S.

gelesen Dezember 2022

autor

Porträt Dostojewskis von Vasily Perov

"Nicht nur immer diese Psychologie!"

Der Rezensent kann die Begeisterung für Dostojewskijs großen Roman nicht verstehen.


Angesichts des russichen Angriffskrieges auf die Ukraine und der gegenwärtigen Ablehnung alles Russischen war das Bedürfnis groß, sich mit russischer Kultur auseinanderzusetzen. Was wäre das besser geeignet als der "größte" Roman des allseits gerühmten Dostojewskij?

Die Enttäuschung ist so groß wie der Roman lang. Die Erzählung spielt in Petersburg (ohne "St"); der Erzähler führt uns von einem Mietshaus durch schmuddelige Innen- und Hinterhüfe ins nächste, welche allesamt kafkaesk anmuten. Obwohl das "Geschehen" in der russischen Hauptstadt mit all seinem Gewimmel auf dem Heumarkt spielt, braucht eine Figur nur auf die Straße zu gehen, um sofort diesen oder jenen Bekannten zu treffen. Wenn das sich nicht ereignet, besucht man die Person eben zu Hause. Dieses Zuhause ist bei allen Figuren ein sparsam möbliertes Zimmer in einem Mietshaus - meist einer deutschen gierigen Vermieterin ("du deutsche Wurstfresserin, ... du niederträchtiges preußisches Hühnerbein!" (S. 416). Die Zimmertüren sind meist nicht abgeschlossen oder stehen gar offen, so dass wildfremde Menschen problemlos in die Intimsphäre eindringen können. So tritt auch Raskolnikow unaufgehalten in die Wohnung seines Opfers ein. Er ist ein zerlumpter ehemaliger Student, der aus genialem Überlegenheitsgefühl (wie Napoleon, die Bezugsgröße) glaubt, eine Pfandleiherin, samt Ihrer Schwester als Kollateralopfer, mit dem Beil ermorden zu dürfen und dies ethisch gerechtfertigt sieht: "eine Laus gegen hundert Leben"! Die Theorie vom "großen Menschen" hat die gescheiterte Existenz in einer Zeitschrift veröffentlicht, wohl die einzige Leistung in seinem bisherigen Leben. top

Nach der Mordtat zieht sich der Roman zäh über Hunderte von Seiten hin, bis der Verbrecher schließlich nach Verfolgungs-Wahnsinn, fiebriger Krankheit, Selbstzweifeln und einigen "Guttaten" sich geständig stellt und acht Jahre im sibirischen Zwangsarbeitslager auf sich nimmt. Dabei wird er aufopferungsvoll begleitet von Sonja, einem "Engel", der ihn zur "Wiedergeburt" (S. 582) führt. Die Liebe zwischen Sonja und Raskolnikow ereignet sich - voraussetzungslos - genauso spontan wie in der Oper zwischen Lohengrien und Elsa.

Handlung gibt es - außer der Mordtat - eigentlich nicht. Das "Geschehen" ist nichts als Kammerspiel. In den engen Zimmern finden endlose "Dialoge" statt, vom Autor szenisch erzählt, welche eigentlich Monologe sind. Der Untersuchungsrichter Porfirij etwa sucht unseren Mörder zu Hause auf zu einer liebenswerten Unterhaltung, was sich zu einem 8-seitigen Monolog dehnt. (S. 475-883). Die Figuren sind in diesen Gesprächen entweder unsympathisch aggressiv oder gestelzt höflich und brauchen ewig, um zur Sache zu kommen. Schneller geht es bei den Raufereien der allseits besoffenen Gestalten in den stinkenden Spelunken und Hinterhöfen.

Wenn ich also aus diesen "Dialogen" etwas über die "russische Seele" zu lernen gehofft hatte, so bleibt mir dies: Es gibt im zaristischen Russland "ungehobelte russische Bauern" (S. 358), eine ausgedehnte Debatte über den "Fortschritt" ("freie Ehe" S. 397f), moderne Psychologie, die philosophisch begründete Moral ("Schiller", S. 500ff), unerträgliche Verelendung, Schmutz und Gemeinheit, sowie das Dauerthema "Geld". Das erinnert an die Dramen des frühen Lessing. Und als wäre Lessing die Blaupause für den motivierten Szenenwechsel ("Wo ist der Vetter denn - ah, da kommt er schon!"), kommt die soeben gesprächsweise erwähnte Romanfigur auch just dann ins Zimmer, wenn man von ihr spricht. Damit ist die Überleitung zum nächsten Kapitel vollzogen.

Das Personentableau ist unnötig ausgedehnt und evoziert episodenhafte Neben"handlungen", die mit dem Fall Raskolnikow nur mühsam verbunden werden. Eigentlich sind selbst Mutter und Schwester - samt ihrer drei Verehrer . völlig überflüssig. Einer davon, der "Erbschleicher" Swidrigailow ist so überflüssig, dass er sich durch Selbstmord selbst aus dem Spiel nimmt. Dem Erzähler ist dieser Abgang kaum mehr wert als eine Randnotiz.

Am Ende einer zermürbenden, langweiligen Lektüre stehe ich fassungslos vor einem deprimierenden Russlandbild und frage mich, wie Kindlers Literaturlexikon daraus einen "Kriminalroman von atemberaubender Spannung" machen konnte.

Michael Seeger, 09. Januar 2023 top

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