Michael Seeger Rezensionen

GOTT

Ferdinand von Schirach

Tabu

2013, Piper 30525, München und Zürich 254 S.

9,99 €  ISBN 978-3-492-30520-4

Atemlos gefesselt

Kunstvoll verwobener Plot und glasklare Lakonie bannen den Leser

 

Wenn man ein Buch an einem Tag liest, weil man es - zeitverloren - einfach nicht mehr aus der Hand legen kann, fragt man sich natürlich, was solch einen Roman auszeichnet.

Bei Tabu ist es noch vor der in drei Büchern ("Grün" - "Rot" - "Blau") kunstvoll verwobenen Fabel die geradezu kalte, die Kenntlichkeit durch extreme Lakonie akzentuierende Sprache, welche den Leser fesselt:

"Sebastian küsste die Mutter auf beide Wangen, dann rannte er nach oben in sein Zimmer und holte ihr Geschenk aus dem Koffer. Im Werkraum des Internats hatte er einen Nussknacker gebastelt, er hatte weiße Zähne, einen roten Bart und einen schwarzen Hut mit einer Fasenfeder aus Holz. Sebastian hatte lange an ihm gearbeitet, die Feder hatte er braun-grün angemalt. Aber jetzt kam ihm das Geschenk dumm vor. Er sah zu Boden, als er es ihr gab. An den Händen hatte er noch das Harz vom Hochsitz und nun klebte es am Nusskancker, weil er nicht aufgepasst hatte. Die Mutter bedankte sich. Sie öffnete zweimal den Mund des Nussknackers. Dann las sie weiter die Ausschreibungen in der >>Reiter Revue<<. Auf dem Tisch lagen die Meldescheine für ihre Turniere. Sebastian erzählte die Neuigkeiten aus dem Internat. Manchmal stellte sie eine Frage, ohne von den Papieren aufzusehen. Nach einiger Zeit sagte sie, dass sie nun losmüsse. Sie faltete ihre Serviette zusammen, sorgfältig, bis die Enden exakt aufeinanderlagen. Sie küsste ihn auf die Stirn. Die Hunde sprangen auf und trotteten neben ihr die Allee zum Stall hinunter." (31)

Hat da Kafka, hat da Kleist gesprochen/geschrieben?  Ist damit - ohne dass gewertet wird - nicht alles gesagt über die Mutter-Kind-Beziehung? Keinerlei Erzählerkommentar, alles aus Sebastian von Eschburgs Innensicht personal erzählt! Die Figuren sind ausschließlich durch ihre Handlungen charakterisiert, so dass man als Leser eigentlich schon jetzt weiß, dass und wie "verkorkst" Sebastian - der als Erwachsener nur noch "Eschburg" heißt - ist/werden wird. Die kalt-egoistische Mutter aber ereilt ihr notweniges Schicksal: "Die Mutter ... ist heute querschnittsgelähmt. Sie hatte vor vier Jahren einen Reitunfall." (239)

Das Faszinierende ist, dass dieser emotiononslos-kalte Berichtstil, der geradezu chronistisch ( >> Kleist !!) daherkommt, im Leser aufgrund der zahllosen Leerstellen die größtmöglichen Emotionen weckt. Das ist wohl von Schirachs Erfolgsrezept! Gewiss liegt im Roman, vor allem in den Charakteren Autobiographisches verborgen. Verborgen? Nein, es liegt offen zu Tage. Der adelige Autor - übrigens der Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach - ähnelt doch irgendwie dem Protagonisten Sebastian von Eschburg. Ein dichteres Alter Ego taucht dann im Strafverteidiger Biegler auf. Schirach ist ja in seinem "ersten Leben" Promi-Strafverteidiger. Da denken wir sofort daran, wie die juristische Profession einen Autor und seinen Stil prägen kann (Kleist, Schlink). Für den Erstleser überraschend - für den Schirach-Kenner logisch - mutiert der Entwicklungsroman schnell zum Krimi! Mit allen Vor- und Nachteilen. Vorteil: Es bleibt bis zum Schluss spannend; Nachteil: der Plot ist doch - wie mancher "Tatort" - zu abstrus und im Detail nicht stimmig aufgelöst konstruiert! Die Anagnorisis der dubiosen ukrainischen Svenja Finks zur "Sphinx" ist zwar eine hübsche mythische Anspielung, leistet aber weiter nichts zur Wahrheitsfindung.

Wer hat aber je eine so fesselnde Gerichtsverhandlung lesend erlebt wie in Tabu? Ob bei Kippardt ("Oppenheimer"), Brecht ("Kaukasischer Kreidekreis), Kleist ("Krug") usw. langweiligen die inszenierten Prozesse doch zu Tode. Nicht hier, mit dem burnoutgeschüttelten Strafverteidiger Biegler, der als wahrer Held der westlichen Welt nicht nur den Fall zur Aufklärung führt, sondern allerlei lebensphilosophische Weisheiten verkünden darf: "Schuld?", dachte er, "Schuld - das ist der Mensch." (249) Auch Eschburgs Geliebte Sophia erspart der sonst so lakonische Autor nicht manches Klischee: "Ich vermisse ihn sehr. Es kommt mir vor, als hätte jemand die Vorhänge zugezogen und das Licht ausgemacht. Was hat das alles bloß für einen Sinn?" ( 214).
Völlig daneben sind sado-pornographische Passagen, von denen zeitgenössische Autoren (>> Houllebecq) offensichtlich glauben, dass dies der Zeitgeist erfordere: "Die Männer spritzten der Frau ihr Sperma ins Gesicht. ... Sie durfte das Sperma nicht abwischen. Nach dem Interview mit dem Pornoproduzenten ging die Kamera zurück. Die Frau musste dann weitere Männer oral befriedigen, 25 oder 30 Männer. Für jeden Mann hatte sie höchsten eine Minute. Nachdem alle Männer auf das Gesicht der Frau gespritzt hatten, begleitete die Kamera die Frau ins Bad. ...." (93).

Warum schätzen wir den Roman dennoch? Von der Spannung und der faszinierenden Sprache war schon die Rede. Es sind aber auch Bieglerische Wahr- und Weisheiten wie diese: "Es geht nicht um die Frage, ob ich kalt bin. ... Es geht nur darum, dass Sie und ich und die Richter ihre Sache ordentlich machen."  (S. 236), welche die kohlhaassche rechtstaatliche Ethik in uns befriedigen. Und ganz im Sinne des in "Anmutige Gegend" kurzfristig geläuterten Faust erinnert uns Schirach daran: "Wir können nur unser Spiegelbild sehen." (254)

Michael Seeger, 29. August 2015

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