Seminarkurs 2000/01 

"Dolly und die Folgen"

Eine Begegnung von Natur- und Geisteswissenschaft
in Fragen der Humangenetik
 
 

Von Werner Bartens

LEITARTIKEL aus: Badische Zeitung v. 05. Dezember 2000

Die entgrenzte Kreatur

Alle Jahre wieder – und das nicht nur zur Weihnachtszeit – werden wir von neuen Schöpfungen aus den Genlabors überrascht, die so gar nicht zu unseren herkömmlichen Vorstellungen von Pflanze, Tier und Mensch passen wollen. Seit ein paar Jahren grasen bereits genveränderte Schafe auf australischen Weiden, die nicht mehr geschoren werden müssen. Durch eine gezielte Manipulation des Erbguts verlieren sie alle paar Wochen ihre Wolle. Die Haare knicken an einer Sollbruchstelle ein und werden in einem Netz aufgefangen, das die Tiere tragen. Die kostenaufwendige Schur entfällt auf diese Weise.

In den Andentälern Südamerikas wachsen Kartoffeln, die mit Hilfe von „Frostschutzgenen“ aus Tiefseefischen unempfindlicher gegen Kälte gemacht worden sind. In Kalifornien stehen genmanipulierte Rinder auf der Weide, die in ihrer Milch menschliche Gerinnungsfaktoren produzieren. In der Nähe von Hannover haben Forscher des Instituts für Tierzucht in Mariensee die Gene so verändert, dass der Gerinnungsfaktor VIII in Schafsmilch enthalten ist. Und der niederländische Bulle „Herman“ gibt an seine weiblichen Nachkommen die Fähigkeit weiter, das Eiweiß Lactoferrin mit der Milch zu produzieren. „Gen-Pharming“ nennt sich diese Kreuzung aus Pharmaindustrie und Farmhaltung. Die Tiere werden dabei als lebende Arzneimittelfabriken verwendet.

Humanes Eiweiß aus tierischen Milchdrüsen? Menschliche Gefäßzellen auf Herzklappen von Schwein und Schaf? Längst werden die Verschiebungen und Entgrenzungen aus dem Labor nur mehr achselzuckend zur Kenntnis genommen. Längst wächst zusammen, was nicht zusammen gehört. Die Grenzen zwischen den Arten verschwimmen. Nun sind zwar Kurzhaardackel oder Apfelsinen im Winter auch nicht gerade der Inbegriff von Natürlichkeit. Doch angesichts der gegenwärtigen Auflösung von arteigenen biologischen Charakteristika und der Neukombination von Eigenschaften aus Mensch, Tier oder Pflanze erweisen sich Begriffe wie „künstlich“ und „natürlich“ als untauglich zur Beschreibung der Basteleien aus den Labors. „Brehms Tierleben“ ist zum Märchenbuch geworden.

Und jetzt also das schottische Huhn „Britney“. Es wurde im Roslin-Institut nahe Edinburgh geboren, dort, wo vor vier Jahren auch „Dolly“, das erste Klonschaf, das Licht der Welt erblickte. Britney wird Eier legen, die Proteine enthalten, aus denen einmal Medikamente hergestellt werden sollen. Sagen die Wissenschaftler. Gegen Krebs natürlich. Darunter macht es in der Forschung kaum noch jemand. Zwei Jahre hat die „Erschaffung“ der Henne gedauert, neben den Roslin-Forschern waren auch Wissenschaftler des amerikanischen Unternehmens Viragen an der Entwicklung beteiligt. Schon wird eine Legeleistung von 250 Eiern jährlich für Britney prognostiziert, werden Hühnerställe geplant, in denen nur Gen-Eier gelegt werden. Und sonntags auch mal zwei.

Was für ein Gegacker! Falls Britney wirklich jemals Pharmaka ausbrüten sollte, wird das von vielen Wissenschaftlern zwar als Triumph gefeiert werden. Doch die eierlegende Wollmilchsau, das Rundumsorglospaket gegen alle möglichen Gebrechen ist mit „Britney“ noch nicht geschlüpft. Lediglich ein billiger Rohstofflieferant für die Pharmaindustrie ist da aus dem Ei gekrochen. Angeblich sind Britneys Eier kostengünstiger als die Eiweißproduktion auf herkömmliche Art.

Mit der neuesten Kreation aus dem Labor – sollten sich ihre Fähigkeiten denn bewahrheiten – ist jedoch nicht nur eine effiziente Methode der pharmazeutischen Nachschubversorgung etabliert worden. Mit Britney und ihren tierischen Kollegen gewöhnen wir uns – über den Umweg ihrer medizinischen Nutzanwendung – an die Vermischung der Biomasse in Labor, Gewächshaus und Stall. Gegen wirksamere Behandlungsmöglichkeiten kann ja wohl niemand sein. Werden dann – wie gegenwärtig in der Diskussion um embryonale Stammzellen – auch die Eigenschaften des Menschen zur Disposition gestellt, ist der Widerstand nur noch matt. Vor der Aussicht auf Therapie kapitulieren alle Bedenken.

   Fragen und Kommentare an Michael Seeger  © 2000-2013 Faust-Gymnasium Staufen,  letztes update 18.09. 2013