Historischer Hintergrund

 

Europa um 1291

Hier, im Herzen Europas, vollbringt Wilhelm Tell seine Taten. Hier wird im August 1291 der eidgenössische Bund geschlossen, der Grundstein der Schweizerischen Eidgenossenschaft gelegt. Die Kultur Europas durchlebt eine stürmische Entwicklung. Die himmelstrebenden gotischen Dome werden erbaut. In Italien künden die Fresken von Giotto schon die Renaissance an. Dante verfasst die ,,Göttliche Komödie". Franz von Assisi und Thomas von Aquin erneuern den christlichen Geist. Marco Polo reist bis nach China. Frankreich wird unter Philipp dem Schönen zum modernen Großstaat. Das deutsch-römische Reich, zu dem unsere Täler gehören, ist in zwei Lager gespalten: Das eine hält zum Papst, das andere zum Kaiser. Die Lage ist überall gespannt, auch wenn Europa noch nicht von den später hereinbrechenden Katastrophen erschüttert ist: Hunger, Pest und Krieg. Die Grafen von Habsburg machen sich die verworrene Lage zu Nutzen. Durch Erbe, Heirat und Gewalt haben sie ihre Hausmacht stark erweitert, ihr Territorium vergrößert. Die Habsburger erstreben nun die Kontrolle über den wirtschaftlich und strategisch wichtigen Gotthardpass und seine Zugangstäler. Wo immer möglich erwerben sie Rechte und Landbesitz in der Region. Überall stellen Sie Beamte, Richter und Steuereintreiber, "Vögte". So unterwandern sie die Machtstrukturen in unsern Tälern. 1273 wird Rudolf von Habsburg zum König gewählt. Er missbraucht die königliche Macht, um das Herzogtum Österreich seinen Stammlanden einzuverleiben. Das Urserntal ist bereits seit längerer Zeit unter seiner Kontrolle. Im April 1291 erwirbt er käuflich die Stadt Luzern. Die Waldstätte sind eingekreist. Doch im Juli 1291 stirbt König Rudolf. Die unsichere politische Lage nach seinem Tod ist Anlass zum Bund der Waldstätte vom Anfang August 1291.Vor diesem Hintergrund muss das Eingreifen Tells verstanden werden. Was tut er?

Er gibt seinem Volk ein Zeichen. Das Zeichen der Weigerung, sich der von den Habsburgern angestrebten Herrschaft zu beugen. Es ist der Aufruf, die Freiheit, die Unabhängigkeit zu bewahren. Das Bergvolk will die Verhältnisse nicht ändern, will Herr seiner Angelegenheiten bleiben, frei im Handel und frei auf seiner wichtigen Verkehrsstraße. Tells Weigerung, den Hut des Vogtes zu grüßen, der als anmaßendes Zeichen fremder Macht auf dem Platz in Altdorf aufgestellt ist, drückt deutlich die Meinung all seiner Landleute aus. Gessler, der Landvogt, lässt Tell verhaften. Zur Strafe befiehlt er ihm, einen Apfel vom Kopfe seines Sohnes zu schießen.

Walter vertraut seinem Vater und lässt es nicht zu, dass er gedemütigt wird.

Tell vollbringt die Tat, gesteht aber, dass er nicht gezögert hätte, den zweiten Pfeil auf den Vogt abzuschießen, hätte der erste sein Ziel verfehlt. Zornerfüllt lässt Gessler Tell auf sein Schiff bringen. Er will ihn ins Verließ seiner Burg nach Küssnacht führen. Ein aufkommender Sturm gefährdet die Überfahrt. Tell wird von seinen Fesseln befreit, um das abtreibende Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Er steuert das Ufer an, springt auf eine Felsplatte und flieht. Diese Felsplatte heißt bis Heute die Tellsplatte.

Tell rettet sich mit einem großen Sprung auf eine Steinplatte, die in den See ragt.

Wie kam es zum Mythos?

Die früheste Fassung der Tellsgeschichte ist uns in Form einer Volksballade überliefert, wie sie von Bänkelsängern im 15. Jahrhundert vorgetragen wurde. Etwa zur selben Zeit verfasst ein Beamter in Sarnen ein Urkundenbuch für seine Regierung. Er fügt eine Erzählung über die Gründung der Eidgenossenschaft an, wie er sie wohl im Volke gehört haben mag. Sein ,Weißes Buch von Sarnen" enthält die erste vollständige Tellsgeschichte. Seither taucht Wilhelm Tell bald hier, bald dort auf, ist Mittelpunkt in Chroniken, Heldengalerien und Schauspielen. Diese Tellspiele haben eine lange, erfolgreiche Theatertradition: Mit Schiller, der 1804 sein Meisterwerk uraufführen lässt, und mit der Oper von Rossini, 1829 in Paris komponiert, erreicht sie ihren vorläufigen Höhepunkt. Inzwischen ist Tell mehr als eine bloße Heldengestalt. Tell verkörpert einen großartigen Mythos: Den einigenden und staatsgründenden Mythos einer Nation, den Mythos der Freiheit und des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung.

Wilhelm Tell und die Politik

Aber der Mythos wird bald angezweifelt: Gibt er nicht das schlechte und gefährliche Beispiel von Revolte und Tyrannenmord ? In der Schweiz versucht die städtische Aristokratie seit dem 16. Jahrhundert, Wilhelm Tell zu verdrängen, ihn vergessen zu machen. Vergebliche Mühe. Wilhelm Tell hat tausend Leben, ist immer wieder da. Und er schickt sich an, die Welt zu erobern. Im Zeitalter der Aufklärung und der Revolutionen feiert Wilhelm Tell Triumphe. In der Schweiz berufen sich die Patrioten auf Tell. Er nimmt an der amerikanischen Revolution teil. Dann finden wir Tell im Brennpunkt des revolutionären Frankreich, zum Ehrenbürger ausgerufen; er wird Jakobiner, Vorbild Robespierres und schließlich Königsmörder. Das wird seinen biederen Landsleuten zuviel, sie verstoßen ihn. Es brauchte Napoleon, der bekanntlich sagte: ,,Die Kinder Tells legt man nicht in Fesseln,, - und Schiller, um seinen Ruf im eigenen Lande wieder herzustellen. Den Konservativen ist er seitdem verdächtig geworden. Die Intellektuellen glauben, den Mythos demontieren zu können und die Legende verstauben zu lassen. Weit gefehlt. Das Volk steht zu seinem Tell. Denn es findet in ihm seine Identität, den Verteidiger seiner Einigkeit und Unabhängigkeit, wenn diese von außen bedroht ist, wie während des ersten und zweiten Weltkrieges.

Wilhelm Tell heute

Der Streit der Wissenschaft um die Existenz Tells, die ironische Verachtung durch die Intellektuellen, der Missbrauch seines Namens im Dienste ausgefallenster Ideen haben es nicht geschafft, Wilhelm Tell vom Sockel zu stürzen. Tell ist gegenwärtig bei allen öffentlichen Anlässen der Schweizer, im Inland ebenso wie im Ausland, von Argentinien bis Japan. Mit Tell wird in jeder Wahlkampagne, bei jeder Abstimmung argumentiert. Er ist Werbeträger für alle möglichen und unmöglichen Produkte und Dienstleistungen. Und seine Armbrust, ist sie nicht Symbol für Schweizer Qualität, für ,,Made in Switzerland"? Nicht zu zählen sind die Filme, Fernseh-Serien, Trickfilme, einer phantasievoller als der andere, aber alle von derselben unerschöpflichen Quelle inspiriert: Von der Geschichte Wilhelm Tells, die im Publikum immer wieder Anklang findet. So ist Wilhelm Tell mitten unter uns, in unserem Leben, in unserem Bewusstsein. Er ist uns heute ebenso gegenwärtig, wie seinem Volke vor 700 Jahren. Denn das Zeichen, das sein Mut gesetzt hat, die Botschaft, die er vermittelt hat, sind heute und auch in Zukunft gültig. Zeichen und Botschaft für unser kostbarstes und doch so zerbrechliches Gut: Die Freiheit; die Unabhängigkeit unserer Volksgemeinschaften. - Menschen, die bewusst und überlegt handelten.